Was war geschehen

 

Am Sonntag, den 8. Mai klagte Nicolas abends erstmals heftiger über Rückenschmerzen, wobei er sich aber mit beiden Händen an die Hüfte faßte und wir uns deshalb nicht so recht einen Reim darauf machen konnten, was ihm wohl weh tun könnte. Wir gaben ihm daraufhin ein Schmerzmittel und am nächsten Morgen war alles in Ordnung. Er wurde vom Bus zur Schule abgeholt.
Am frühen Nachmittag aber rief die Schule an und bat uns, Nicolas abzuholen – er fühle sich anscheinend nicht gut und hätte wohl Schmerzen. Da kurzfristig kein Termin beim Orthopäden zu bekommen war, fuhr Sabine mit ihm ins Krankenhaus dritter Orden. Dort wurde er geröngt und es wurde ein Wirbeleinbruch festgestellt. Nichts dramatisches, es wurde eine Art Rückenkorsett zur Stabilisierung der Wirbelsäule verschrieben. Wiedervorsprache am Donnerstag.

Am Dienstag dann das gleiche Spiel. Anruf der Tagesstätte, Nicolas wirke etwas apatisch, säße nur still und in sich gekehrt da – es gehe ihm wohl nicht gut. Ich holte ihn ab und wir ließen ihn am nächsten Tag zu Hause. Donnerstags – wieder im Dritten Orden – wurden dann verschlechterte Blutwerte festgestellt und Nicolas wurde mit Verdacht auf eine Knochenentzündung stationär aufgenommen. Er bekam dreimal täglich Antibiose.

Eine Woche später, am 12. Mai konnte endlich ein MRT gemacht werden. Am späten Nachmittag, als der Besuch gegangen war, wurden wir im Ärztezimmer über das Ergebnis des MRT informiert: weiße Flecken vom Hals entlang der Wirbelsäule bis zum Becken deuten auf Blutkrebs hin. Wir wurden noch am selben Abend in die Onkologie der Schwabinger Kinderklinik überstellt.

Am nächsten Tag wurde vormittags gleich eine Knochenmarkspunktion, nachmittags ein CT des Beckenbereichs durchgeführt. Auf der Suche nach dem sog. Primärherd erfolgten in den folgenden Tagen zahllose weitere Untersuchungen – ohne konkretes Ergebnis bzw. ohne einen Befund für eine eindeutige Diagnose. Nicolas‘ Blutwerte und körperlicher Zustand waren so gut, dass nichts auf Leukämie hindeutete. Am Mittwoch, den 25. Mai wurde Nicolas (und auch wir) vorübergehend bis Sonntag nach Hause entlassen.

Am Montag, den 30.Mai erfolgte eine Knochenmarksstanzung eines befallenen Bereichs im Becken durch einen Spezialisten im Klinikum rechts der Isar. Zwei Tage später nochmals ein MRT von Kopf und Schilddrüse sowie eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Tagsdarauf wurden nochmals weitere 3 Biopsien von Knochengewebe durchgeführt. Am 6. Juni wurden wir wieder vorübergehend für 3 Tage entlassen. Dies sollten die letzten 3 Tage sein, die Nicolas nochmal zu Hause verbringen durfte.

Am Mittwoch kam der avisierte Anruf, dass das Ergebnis der Knochenmarksstanze nun eine eindeutige Diagnose zuließe: Nicolas hat ein sog. B-Lymphom, eine Form von Blutkrebs in einer Vorstufe. Eine Behandlung könne nun erfolgen, bereits am Tag darauf werde damit begonnen. Für uns eine Art Erlösung, nachdem die letzten Wochen ein stetes Auf und Ab waren, eine Zeit der Ungewißheit, eine Zeit des Hoffens und Bangens.

Am Donnerstag, den 9. Juni wurde Nicolas im Schwabinger Krankenhaus ein Doppelport gesetzt und sofort danach begann die Behandlung gemäß dem sog. Protokoll, einem speziell auf seine Krankheit abgestimmten 2-Jahres-Plan. Im Elterngespräch wurde uns von einem 80%igen Heilungserfolg berichtet, was uns durchaus hoffnungsvoll stimmte.

Nach einer Woche ‚Vorbehandlung‘ mit Cortison begann ab 16. Juni die Chemotherapie. Nicolas bekam über die Ports verschiedenste Medizin, das eigentliche ‚Teufelszeug‘ Asperaginase im Abstand von 3 Tagen. Das Protokoll sah vor, dass der erste stationäre Block am 17. Juli abgeschlossen sei, danach dann ein 4-wöchiger ambulanter Block folgen sollte.

Ungefähr 2 Wochen nach Behandlungsbeginn wurden bei Nicolas erhöhte Blutzuckerwerte festgestellt. Die Folge waren ständige Überwachung des Blutzuckers und entsprechende Insulinspritzen bei Bedarf. Ernährung und Getränke mußten auf zuckerarm bzw. zuckerfrei umgestellt werden. So vergingen die Tage, es gab erstmal keine weiteren Komplikationen und wir alle waren stets guter Hoffnung.

Seitdem Nicolas im Schwabinger Krankenhaus war, kamen keine Klagen über Rückenschmerzen mehr. Er war im Prinzip wohlauf, ertrug sämtliche Untersuchungen und Behandlungen tapfer und ohne ein Murren. Was er allerdings überhaupt nicht mochte, waren die vier bis fünf Medikamente, die er oral zu sich nehmen mußte. Hier war einiges Geschick gefragt, um ihn immer wieder zur Einnahme der Medizin zu motivieren.

Den Aufenthalt versuchten wir ihm so erträglich wie möglich zu gestalten. Er hatte einen eigenen Fernseher mit integriertem DVD-Player, sein iPad, sein iPhone und eine Reihe seiner Lieblings-Spielsachen. Nachmittags gab es im Bistro des Krankenhauses oft ein leckeres Schoko-Eis, was er liebte. Einmal wöchtentlich brachten wir ihm eine Salami-Pizza mit, welche wir in der Stationsküche aufbackten. Ab und an gab es auch frische aufgebackene ‚Pommes‘. Es war ständig ein Elternteil bei ihm, er war nie allein und der andere Elternteil und auch Mariella besuchten Nicolas nahezu jeden Tag. Jeder Besuch sollte ihm auch eine Freude bereiten, indem ihm eine ‚Bullyland-Figur‘ aus seinen Lieblings-Walt Disney-Filmen geschenkt wurde. Daran hatte er auch wirklich Freude. Ich erinnere mich, dass Nicolas auf seinem iPad Peter Pan angeschaut hat und manche Szenen dann interaktiv mit den Bullyland-Figuren nachspielte.
Seine Mitschüler aus der Cäcilienschule und der Tagesstätte schickten ihm mehrmals Geschenke, worüber er sich sehr gefreut hat und was uns auch zeigte, wie sehr ihm diese ans Herz gewachsen sind. Freunde und Bekannte, die ihn nicht besuchen kommen konnten, schickten Nicolas aufmunternde Video-Nachrichten – ebenfalls für ihn wertvolle Zeichen der Unterstützung. Natürlich war Nicolas nunmehr bereits eine lange Zeit im Krankenhaus und sehnte sich nach seinem zuhause. Immer wieder erzählte er, was er dann alles vorhabe. Wir verspachen ihm natürlich, all das nachzuholen.

Nach knapp 4 Wochen gab es einen ersten Warnschuß: die Leber arbeitete schlecht und nur knapp entging er einer Verlegung auf die Intensivstation. Ein paar Tage später, ungefähr eine Woche vor Abschluß des ersten stationären Blocks, traten diese Komplikationen erneut und verstärkt auf. Plötzlich waren die Leber- und auch die Nierenwerte wieder erhöht und Nicolas sammelte Wasser im Körper an. Eine erste Verlegung in die Intensivstation erfolgte dann am 12. Juli für zwei Nächte. Zurück auf der Station der Onkologie, wurde weiter nach Protokoll behandelt.

Die letzte Chemotherapie hat Nicolas dann gar nicht mehr vertragen: er lagerte immer mehr Wasser ein und seine Gelbsucht mangels Entgiftung durch die Leber war deutlich zu sehen. Ab dieser Zeit nahm er keinerlei feste Nahrung mehr zu sich. Alle Versuche, Nicolas zu ‚entwässern‘ blieben erfolglos. Die Leber- und Nierenwerte verschlechterten sich dazu täglich. Als Nicolas dann nicht mehr selbständig Wasser lassen konnte – obwohl er durchaus wollte und Druck verspürte – ließ sich ein Blasenkatheter nicht mehr vermeiden. Insgesamt verschlechterte sich sein Zustand innerhalb kürzester Zeit enorm. Er war sehr schläfrig, schaute nur noch selten TV und nahm auch sein heißgeliebtes iPad fast nicht mehr in die Hand.

Am 16. Juli wurde er schließlich erneut auf die Intensivstation verlegt. Uns Eltern erzählte man im Ärztegespräch, dass nur dort Medikamente verabreicht werden dürften, die auf der Onkologie nicht zugelassen wären.

Auf der Intensivstation war die tägliche Besuchszeit für die Angehörigen von morgens 8 Uhr bis abends maximal 22 Uhr. In der Zwischenzeit war Nachtruhe angesagt. Um nicht täglich ab- und anreisen zu müssen, wurde uns ein eigenes Zimmer im Block nebenan zur Verfügung gestellt.

Es drehte sich nun alles um seine Werte: Enzündungswerte, Harnsäurewert, Bilirubin, Ammoniak, Blutgerinnung, Insulin etc. Täglich warteten wir auf Besserung, aber die beiden wichtigsten Werte für den Zustand von Leber und Niere wollten sich nicht erholen. Das Niveau war laut Ärzte immer auf einem schlechten, aber stabilen Niveau.

Nicolas spürte, dass es ihm nicht gut ging. Er wollte gerne aufstehen und spazieren gehen, war aber bereits zu geschwächt. Er hatte aber noch immer genug Kraft, um sich beispielsweise nachts – trotz Fixierung – die mittlerweile verabreichte Magensonde zu ziehen oder sogar die Nadeln zum Port, die ihn mit den verschiedensten Medikamenten versorgten. Das waren Zeichen seiner Frustration über die Gesamtsituation.

Als Eltern waren wir in dieser Phase ziemlich hilflos. Wir konnten im Prinzip nichts für ihn tun, außer bei ihm zu sein, ihn unsere Wärme und Zuneigung spüren zu lassen, ihn mit Flüssigkeit zu versorgen und die Pflegekräfte ab und an etwas bei seiner Körperpflege zu unterstützen. Es war schrecklich und extrem belastend. Wir Eltern wechselten uns deshalb nach jeder zweiten Nacht ab. Mehr war aus psychischer und auch aus physischer Sicht nicht machbar.

Am 21. Juli schlugen uns die Ärzte schließlich vor, Nicolas einer erneuten OP zu unterziehen. Eine Dialyse sollte die Niere entlasten. Dafür müßte aber ein neuer zusätzlicher Port gelegt werden. Wir waren natürlich einverstanden. Der geplante Termin für die OP mußte dann allerdings verschoben werden, weil Nicolas‘ Blutgerinnung durch die ausgesetzte Leberfunktion zu schlecht war. Am 23. Juli am spät abends erfolgte dann die OP und noch in der Nacht erfolgte die erste Dialyse.

Durch die tägliche Dialyse verschwand in den nächsten Tagen endlich das sich bis dahin angesammelte Wasser – immerhin fast 8 kg! Was sich aber nicht besserte waren die Leberwerte. Nicolas Hautfarbe und auch seine Augen waren mittlerweile extrem gelb. Es ging ihm sichtlich nicht gut. Er konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr aufrichten oder zum Wiegen aufsetzen. Unvergessen bleibt eine Situation in diesen letzten Tagen, als Nicolas mit all seiner noch verbliebenen Kraft zitternd den Arm hob, mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das Fenster in seinem Zimmer deutete, mich dabei anschaute und dabei sagte: „Aufsteh’n, raus, nach Hause!“. Ich wußte gar nicht recht, was ich ihm antworten soll. Immer noch im festen Glauben, daß sich alles zum Guten wenden würde, wiederholte ich, wie so oft schon, daß wir das tun würden, sobald er wieder bei Kräften sei.

Weil Nicolas seit seiner Zeit auf der Intensivstation nachts so gut wie nie geschlafen hat, wurden ihm zuletzt Beruhigungsmittel verabreicht. Diese wirkten aber weniger in der Nacht – Nicolas war wenig empfänglich für solche Medizin -, als mehr tagsüber, wo er dann oftmals für Stunden wie weggetreten war und und ein wenig döste.

Ärztegespräche hatten wir schon länger auf einen 3-Tages Rhythmus anberaumt. Die Ärzte berichteten zwar übereinstimmend vom schlechten Zustand von Leber und Niere, waren aber uns gegenüber durchaus hoffnungsvoll und vermittelten immer das Gefühl, dass sich Besserung einstellen könnte. Beim Gespräch am 1. August wurde erstmals mehr nebenbei erwähnt, dass sich nicht noch eine weitere Belastung, wie beispielsweise eine Lungenentzündung einstellen dürfe. Das wäre dann extrem lebensbedrohlich.

Am Vorabend des 4. August hatte Nicolas wieder Temperatur bekommen, die auch am Morgen noch erhöht war. Sabine verhinderte daher die Durchführung der bis dahin täglichen Dialyse-Behandlung und drängte auf ein außerplanmäßiges Ärztegespäch am Nachmittag.
Kurz nach Mittag trafen wir uns zum nächsten anstehenden Betreuungswechsel in Nicolas Zimmer. Ohne es zu wissen, sollte das unser Abschied von ihm – während einer seiner seltener gewordenen wachen Phasen – sein. Nachmittags um 14.30 Uhr setzten wir uns zum erneuten Ärztegespräch zusammen. Dort wurde uns offenbart, Nicolas hätte sich jetzt noch eine Lungenentzündung zugezogen und „könne es damit nicht schaffen“. In Absprache mit uns sollten die lebenserhaltenden Medikamente von jetzt an langsam zurückgenommen werden – wir wollten Nicolas nicht weiter leiden lassen.

Es folgten Stunden der Tränen. Tränen der Hilflosigkeit, der Ratlosigkeit, der Verzweiflung, ob des bevorstehenden Schicksals.

Nicolas wurden zu seiner Erleichterung währenddessen erstmals Morphinpräperate verabreicht. Als wir zu ihm zurückkamen war er erstmals seit vielen Tagen ganz ruhig.

teelichterherz

Noch am selben Abend um 21.20 Uhr ist unser geliebter Herzibub Nicolas gestorben.

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